Die industrielle Holzverkohlung in Brilon

Briloner Heimatbuch, Band 4 vom 27. 08. 1995 anläßlich der 775-Jahr-Feier der Stadt Brilon

Von Dr. Heinz Mirbach

Nach 115 Jahren wird die einzige größere chemische Fabrik in unserer Region geschlossen

Vor 10 Jahren waren im Degussa-Werk in Brilon­Wald noch über 240 Leute beschäftigt. Nun gehen dort die Lichter aus.

Die Vorgeschichte begann 1839. Damals wurde in Hüsten an der Ruhr – heute Stadtteil von Arnsberg – die Erzeugung von Stahl aufgenommen. 1846 wurde ein Walzwerk errichtet und die Firma nannte sich „Hüstener Gewerkschaft“. 1865 errichtete sie ein weiteres Walzwerk im benachbarten Bruchhausen/Ruhr.

Damals verwendete man in Hüsten für die Stahlerzeugung noch Holzkohle, die in Meilern produziert wurde. Weil der Holzkohlebedarf stieg, baute die Hüstener Gewerkschaft 1876 in Bruchhausen dann eine Holzverkohlungsanlage. Erbauer und Leiter des neuen Werkes wurde der Apotheker und Chemiker Georg Krell, den man heute in die Reihe der besonders erfolgreichen Manager einstufen würde. Er erzeugte nicht nur Holzkohle. Aus den flüssigen Nebenprodukten der Verkohlung – Holzteer und Holzessig -, die bei der Holzkohleherstellung im Meiler den Boden und die Luft verunreinigten, erzeugte Krell eine ganze Palette von Chemikalien und Arzneimitteln.

Der Rohstoff Holz wurde damals noch mit Pferden in das Werk gebracht. Die so erreichbaren Holzmengen genügten schon bald nicht mehr, um den steigenden Holzkohlebedarf zu decken. Deshalb errichtete Georg Krell 1880 eine weitere Fabrik zur Erzeugung von Holzkohle in Brilon-Wald. Er wählte diesen Standort, weil 1873 die Eisenbahnlinie von Hagen nach Warburg fertiggestellt worden war und Holzkohle, Holzteer und Holzessig günstig von Brilon-Wald nach Hüsten und Bruchhausen transportiert werden konnten.

Damit war auf dem Gebiet der Stadt Brilon eine chemische Fabrik entstanden, die in den folgenden Jahrzehnten zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor wurde. Man arbeitete gern dort, obwohl die meisten Arbeitsplätze staubig waren, denn die Löhne waren gut. Außerdem war das Werk von vielen Orten aus bequem mit der Bahn zu erreichen (ab 1900 auch von Brilon-Stadt). Es waren aber auch immer Arbeiter aus Schwalefeld beschäftigt, die einen sehr beschwerlichen Fußweg mit großen Höhenunterschieden bewältigen mußten, um zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen.

In der chemischen Industrie ist es üblich, die Herstellungsverfahren häufiger zu überarbeiten oder zu wechseln. Dagegen ändern sich die Firmennamen nur sehr selten. Im Werk Brilon-Wald war es umgekehrt: hier wechselte häufig der Name, während die Produkte und die Produktionsverfahren nur selten verändert wurden.

Mit Beginn dieses Jahrhunderts stellte die Hüstener Gewerkschaft ihre Stahlerzeugung um und verwendete nun Steinkohlenkoks statt Holzkohle. Georg Krell übernahm im Jahre 1908 die „Chemische Abteilung der Hüstener Gewerkschaft“ mit den Werken in Bruchhausen und Brilon-Wald in eigene Regie. Er gründete die „Chemische Fabrik Bruchhausen G.m.b.H.“.

1910, im Jahre des Todes von Georg Krell, gingen die Werke in Bruchhausen und in Brilon-Wald für 1,2 Millionen Mark in den Besitz der Hiag über, mit der Krell bereits 1908 einen Kooperationsvertrag abgeschlossen hatte.

Die „Hiag“ (Abkürzung für „Holzverkohlungsindustrie Aktiengesellschaft“) war 1902 von der Frankfurter Firma Degussa (Abkürzung für „Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt“) gegründet worden, weil sie große Mengen Holzkohle für ein damals neu entwickeltes Verfahren zur Erzeugung von Natriumcyanid (das man für die Gewinnung von Gold und Silber benötigte) brauchte.

Die zahlreichen Fabriken zur Erzeugung von Holzkohle, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in Österreich und auf dem Balkan entstanden waren, sollten von der Hiag zu einem Konzern zusammengefaßt werden. Dieses Ziel konnte bis 1930 erreicht werden, als die Hiag den „Verein für Chemische Industrie“ – Besitzer mehrerer Holzverkohlungswerke – übernahm und sich nunmehr „Hiag-Verein Holzverkohlungsindustrie G.m.b.H.“ nannte.

Dieser Gesellschaft gehörten 1930 sechzehn Werke in Deutschland, in denen man Holzkohle erzeugte oder die Verarbeitung der Nebenprodukte durchführte. Die Hiag- Werke in Österreich und auf dem Balkan waren nach dem ersten Weltkrieg verloren gegangen.

Wichtiger als die Holzkohle wurden in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts dann aber die Nebenprodukte der Holzverkohlung.

Dies gilt im besonderen Maße für den Methylalkohol (Methanol), der zum Ausgangsstoff vieler Produkte wurde, die heute noch bei der Degussa erzeugt werden – darunter der besonders bekannte Formaldehyd .

Im Jahre 1923 wurde aber ein Verfahren gefunden, das die synthetische Herstellung von Methanol aus Steinkohle ermöglichte. Dadurch wurde dieser Rohstoff so billig, daß sich die Isolierung aus dem Holzessig nicht mehr lohnte. Ähnliches passierte mit anderen Nebenprodukten der Verkohlung.

Der Name „Chemische Fabrik Bruchhausen, Zweigniederlassung Brilon-Wald “ blieb noch bis 1919 erhalten. Deswegen sprechen ältere Briloner heute noch von der „Chemischen“. Dann hieß es. „Holzverkohlungsindustrie Aktiengesellschaft, Zweigniederlassung Brilon Wald“. Ab 1930 konnte man auf dem Schild am Eingang des Werkes (es befindet sich in meinem Besitz) dann lesen: „Hiag-Verein Holzverkohlungsindustrie G.m.b.H., Zweigniederlassung Brilon Wald“. 1940 wurde die Gesellschaft „Hiag-Verein“ ganz in die Degussa übernommen und es hieß nun: „Deutsche Gold- und Silberscheide-Anstalt vormals Roessler, Hiag-Werk Brilon-Wald“. Daraus wurde dann später stufenweise: „Degussa AG, Werk Brilon-Wald“.

Im Jahr 1932 ruhte die Produktion des Werkes wegen Absatzschwierigkeiten für einige Monate. Dem damaligen Werksleiter Theophil Reichert gelang es nur mit großer Mühe, die Werksschließung zu verhindern. Er wurde dabei von der Stadt Brilon unterstützt, die den Rohstoff Holz zu besonders günstigen Preisen lieferte. Theophil Reichert war es auch, der ab 1933 die Holzverkohlung in Brilon-Wald (und später im Schwesterwerk Bodenfelde) auf ein völlig neues Verfahren umstellte, das den Einsatz großer Apparate ermöglichte.

1928 hatte man in Brilon-Wald die Erzeugung von Aktivkohle aus Holzkohle aufgenommen. Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs ging die Aktivkohlefabrik der Degussa in Ratibor (Schlesien) verloren. Nunmehr wurde die Aktivkohle zum Hauptprodukt des Werkes Brilon-Wald.

Nach dem zweiten Weltkrieg waren noch zehn der sechzehn „Hiag-Werke” in Betrieb. Davon wurden in den folgenden Jahren fünf stillgelegt und drei – darunter auch das Werk in Bruchhausen – auf andere Produktionen umgestellt. Das Werk Bodenfelde überlebte, weil es die leistungsfähigste Verkohlungsanlage besaß. In Brilon-Wald ging es ebenfalls aufwärts, nicht zuletzt wegen der Aktivkohleherstellung.

Die Verkohlungsnebenprodukte wurden zunächst immer in Schwesterwerken zu Verkaufserzeugnissen aufgearbeitet. 1960 übernahm das Werk Brilon-Wald vom Werk Bruchhausen die Anlagen zur Gewinnung von Wertstoffen aus dem Holzkohlenteer.

Die meisten alten Werke der Degussa wurden seit etwa 1960 modernisiert. In Brilon-Wald wurde jedoch sehr wenig investiert. Der Holzkohleabsatz ging zurück und die Aktivkohle erfüllte nicht die in sie gesetzten Erwartungen. Es ging nun abwärts. 1975 und 1980 konnte die bereits angekündigte Schließung des Werkes noch verhindert werden, wohl auch, weil die Degussa immer ein sozial eingestelltes Unternehmen war und die Entlassung von über zweihundert Mitarbeitern scheute.

1981 begann man doch noch mit der Modernisierung der Aktivkohleanlagen.

Doch das Ergebnis der eingeleiteten Maßnahmen wollte die Degussa dann plötzlich nicht mehr abwarten: sie verkaufte am 01. Mai 1988 die Werke Brilon-Wald und Bodenfelde an einen anderen Aktivkohlehersteller, die Calgon Carbon Corporation aus Pittsburgh in den USA. Diese Firma gründete das Tochterunternehmen „Chemviron Carbon GmbH“ in Neu-Isenburg, zu dem nun auch das Werk Brilon-Wald gehörte.

Diese Gesellschaft stellte dann 1992 nach 112 Jahren die Fabrikation von Holzkohle in Brilon-Wald ein. Am 18. Januar 1995 wurde verkündet, daß zur Jahresmitte auch die Produktion von Aktivkohle nicht mehr weitergeführt werden soll. Die letzten 150 Mitarbeiter werden entlassen und es ist zu befürchten, daß in Brilon-Wald in den nächsten Jahren eine schrecklich anzusehende Industrieruine zurückbleibt.

Das Werk war in den 115 Jahren seines Bestehens nie selbständig. Der Verkauf der erzeugten Produkte erfolgte durch Leute, die nicht im Werk beschäftigt waren. Auch die wichtigsten finanziellen Entscheidungen wurden außerhalb getroffen. Dies war sicher nicht immer von Vorteil. Andererseits wäre die Schließung vielleicht schon früher erfolgt, wenn kein potentes Unternehmen dahinter gestanden hätte.