Holzgas in der Literatur

aus: Weilheimer Anthologie

Hans Werner Richter: Aufenthalt in Weilheim, September 1947

Der Personenzug, der uns von München nach Füssen im Allgäu bringen soll, fährt nur bis Weilheim in Oberbayern. Das ist die halbe Strecke. Niemand weiß, wie
wir von dort aus weiterkommen. Die Verkehrsverbindungen sind immer noch so schlecht wie kurz nach dem Ende des Krieges. Es ist ein schöner Septembertag, Alt-
weibersommer. In den Dritte-Klasse-Abteilen des Personenzugs drängen sich die ehemaligen Mitarbeiter des verbotenen »Ruf«. Nur Alfred Andersch fehlt. Er ist meiner
Einladung nicht gefolgt, vielleicht, weil er dieses Tre* en für sinnlos hält, vielleichtauch aus Mangel an Zeit – er arbeitet inzwischen im Hessischen Rundfunk. Die
Fahrt mit dem Personenzug ist beschwerlich. Auf dem Bahnhof in Weilheim erfahren wir, daß ein fahrplanmäßiger Omnibus nach Füssen geht, aber er ist bereits dicht
besetzt. Auch ein Sonderomnibus, der kommen soll, bleibt aus. Wir sitzen vor dem Bahnhof auf den Bordsteinen und Bänken mit unseren schäbigen Koffern, zerkratz-
ten Aktentaschen und Rucksäcken. Zwei von uns gehen in die Stadt, um irgendein Fahrzeug zu organisieren und kommen nach Stunden mit einem stinkenden Holz-
gas-Lkw zurück. Die Fahrt nach Füssen beginnt, eine staubige Fahrt in einem einen Lastwagen, hügelauf, hügelab durch das Alpenvorland, mit rauchendem Holzgas
Schornstein, mehr geschaukelt als gefahren.
Wohnhaus von Ilse Schneider-Lengyel am Bannwaldsee im Allgäu, hier wurde die „Gruppe 47“ gegründet. Foto von 2006.

Am Bannwaldsee empfängt uns die Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel. Sie hat uns ihr kleines Haus zur Verfügung gestellt. Ihr gehört auch der kleine See, der Bannwaldsee, in dem sie Hechte gefangen hat, damit wir, die Empfänger von tausendfünfhundert Kalorien, die Stadtverhungerten, etwas zu essen haben.

Nach der beschwerlichen Fahrt springen die meisten nackt in den See, um den Staub, den Dreck des Holzgasgenerators abzuwaschen, die Anstrengungen des Tages abzuschütteln. Das Haus der Ilse Schneider-Lengyel ist eng. Es hat nur wenige kleineStuben, die voller Möbel stehen. Es ist ein Lagerleben, gewohnt für die meisten aus Krieg und Gefangenschaft, ein Lagerleben mit siebzehn Teilnehmern unter der Allgäuer Septembersonne. Was alles erträglich macht, ist die nach den Jahren der Unterdrückung wiedergewonnene Freiheit. Niemand emp+ ndet die Entbehrungen. Die Zukunft ist trotz allem ho* nungsvoll. Am Spätnachmittag beginnt die erste Besprechung. Es ist eine Art Redaktionssitzung. Im Mittelpunkt steht die in Vorbereitung befondliche literarische Zeitschrift »Der Skorpion«, für die ich noch keine Lizenz besitze. Die Besprechung wird von mir geleitet. Ich bin der Einlader zu diesem Tre* en und für die ehemaligen Mitarbeiter des »Ruf« auch immer noch dessen Herausgeber.
Ich hatte auf meinen handgeschriebenen Postkarten gebeten, noch nicht veröffentlichte Manuskripte mitzubringen. Fast alle sind dieser Aufforderung gefolgt. Da sie alle literarische Anfänger, Neulinge in der Kunst des Schreibens sind, gibt es auch keine Meisterwerke zu entdecken. Es sind Versuche, Anfänge, dilettantisch oft, aber hin und wieder auch Talent, ja Begabung verratend. Anfang ist alles in dieser Zeit und in diesen Tagen.
(Hans Werner Richter und die Gruppe 47, 1979)
Der Holzgas-Lkw wurde von Walter Maria Guggenheimer requiriert, der einen alliierten Militärausweis hatte.

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